Ferruccio Busoni über Musik "Architektur, Plastik, Dichtung und Malerei sind alte und reife Künste; ihre Begriffe sind gefestigt und ihre Ziele sicher geworden;sie habendurch Jahrtausende den Weg gefunden und beschreiben, wie ein Planet,regelmäßig ihren Kreis. Ihnen gegenüber ist die Tonkunst das Kind, das zwar gehen gelernt hat, aber noch geführt werden muss. Es ist eine jungfräuliche Kunst, die noch nichts erlebt und gelitten hat. Sie ist sich selbst noch nicht bewusst, was sie kleidet, der Vorzüge, die sie besitzt, und der Fähigkeiten, die in ihr schlummern: wiederum ist sie ein Wunderkind, das schon viel Schönes geben kann, schon viele erfreuen konnte und dessen Gaben allgemein für völlig ausgereift gehalten werden. Die Musik als Kunst, die sogenannte abendländische Musik, ist kaum vierhundert Jahre alt, sie lebt im Zustande der Entwicklung; vielleicht im allerersten Stadium einer noch unabsehbaren Entwicklung, und wir sprechen von Klassikern und geheiligten Traditionen! Spricht doch bereits ein Cherubini, in seinem Lehrbuch des Kontrapunktes, von „den Alten. Wir haben Regeln formuliert, Prinzipien aufgestellt, Gesetze vorgeschrieben — wir wenden die Gesetze der Erwachsenen auf ein Kind an, das die Verantwortung noch nicht kennt! So jung es ist, dieses Kind, eine strahlende Eigenschaft ist an ihm schon erkennbar, die es vor allen seinen älteren Gefährten auszeichnet. Und diese wundersame Eigenschaft wollen die Gesetzgeber nicht sehen, weil ihre Gesetze sonst über den Haufen geworfen würden. Das Kind —es schwebt! Es berührt nicht die Erde mit seinen Füssen. Es ist nicht der Schwere unterworfen. Es ist fast unkörperlich. Seine Materie ist durchsichtig. Es ist tönende Luft. Es ist fast die Natur selbst. Es ist frei. Freiheit ist aber etwas, das die Menschen nie völlig begriffen noch gänzlich empfunden haben. Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben (denn Erfindung und Empfindung sind nicht allein ein Vorrecht der Melodie); lassen wir sie der Linie des Regenbogens folgen und mit den Wolken um die Wette Sonnenstrahlen brechen; sie sei nichts anderes als die Natur in der menschlichen Seele abgespiegelt und von ihr wieder zurückgestrahlt; sie ist doch tönende Luft und über die Luft hinausreichend; im Menschen selbst ebenso universell und vollständig wie im Weltenraum; denn sie kann sich zusammenballen und auseinanderfliessen, ohne an Intensität nachzulassen". Ferruccio Busoni, 1916

Please publish modules in offcanvas position.